Michael Glasmeier
Monoblock, barock
"Die wunderschöne Morgenröthe/ welche dem Silber-bleichen
Monde seinen Schein zu rauben sich bemühete/ war auß ihrem
Lager kaum hervor gekrochen/ da erwachete Herkules vom Schlaffe/ stieg
seiner Gewonheit nach/ sanfte auß dem Bette/ daß sein Freund
Ladisla dessen nicht gewahr wurde/ legte sich auff die Knie/ und betete
in herzlicher Andacht seinen Christlichen Morgen-Segen." Kann mit
solchem Zitat eine kleine Reflexion begonnen werden über einen Stuhl
aus hundertprozentigem Plastik, einen Stuhl, der diesen Planeten bevölkert
wie kein anderer und auf den wir uns setzen müssen, weil uns nichts
anderes mehr übrig bleibt? Ja, man kann, aus mehreren Gründen.
Zitiert ist der Anfang von "Herkules und Valiska", ein höfischer
Barockroman von Andreas Bucholtz aus dem Jahr 1659. Es steht hier als
Beispiel für die frühe Romankultur des 17. und 18. Jahrhunderts,
die Homer folgend fast alle ihre Verwicklungsgeschichten mit der Beschwörung
des Sonnenaufgangs beginnt. Mit den ersten Sonnenstrahlen des frühen
Tags startet die Erzählung und begibt sich sogleich in medias res.
In welch außerordentlichem Maß diese Eingangsfloskel die Romankultur
auch noch in der bürgerlichen Zeit bestimmen sollte, zeigt sich daran,
daß sie schon früh von Paul Scarron und später noch von
Jean Paul im parodistischen Gewand der Lächerlichkeit preisgegeben
wurde. 1651 formuliert Paul Scarron für seinen "Roman comique"
den wohl berühmtesten Romananfang der Literaturgeschichte mit den
Worten: "Der Sonnengott hatte bereits über die Hälfte seiner
Fahrt zurückgelegt, und sein Wagen rollte nun, nachdem er den abschüssigen
Weltrand erreicht hatte, schneller hinab, als ihm lieb war. Hätten
seine Rosse die Neigung der Bahn ausnützen wollen, sie würde
keine Viertelstunde gebraucht haben, um den Rest des Tages zu vollenden;
aber statt mit ganzer Kraft anzuziehen, vertändelten sie die Zeit
mit kurzen Sprüngen, und sie wieherten, da ihnen die Salzluft, die
sie witterten, die Nähe des Meeres verriet, in dem, wie es heißt,
ihr Herr und Gebieter sich allnächtlich zu Ruhe begibt. Menschlicher
und verständlicher gesprochen: Es war zwischen fünf und sechs,
als ein Karren auf den Marktplatz von Le Mans rollte."
Just zu dieser Zeit hat auch zumindest im Berliner Sommer 1996 eine andere,
neue Aurora ihren großen Auftritt. Gemeint sind jene weißen
Monoblockstühle, die draußen auf dem Trottoir der Kneipe "ohne
Ende" vor der Eingangstür des Hauses, in dem ich wohne, auf
die ersten Gäste warten. Die Kneipe hat bei dem Namen natürlich
einen Tag- und Nachtbetrieb, und zu dieser frühen rotleuchtenden
Morgenstunde, wenn die Vögel und Tauben zu lärmen beginnen,
schwanken die Nachtgäste zurück in die umliegenden Wohnungen
und erscheinen die Taggäste zum ersten Trunk. Und damit beginnen
die Romane. Es wird erzählt, weniger höfisch zwar, mehr kleinbürgerlich.
Und der zur Arbeit eilende Frühaufsteher vernimmt jenen halblauten,
etwas ruppigen Berliner Singsang.
Normalerweise wäre mir das schnuppe, wenn Sibylle Hofter nicht seit
einiger Zeit immer wieder von ihrem Monoblockstuhlprojekt berichtet hätte.
Erst jetzt fallen mir diese Stühle auf, und erst jetzt begegnen sie
mir an allen möglichen Orten und Unorten. Und ich muß feststellen,
daß diese Stühle in ihrer merkwürdigen Form offensichtlich
ideal sind, um Erzählungen in Gang zu setzen. Der Sitzende kann in
ihnen Platz nehmen und hat zugleich gewisse Freiheiten, um Haltungen zu
ändern. Außerdem gibt er ruckartigen Bewegungen leicht nach.
Mit seiner hohen Lehne hat er auch etwas von einem Sessel, in dem allerdings
die Lektüre von Büchern nicht so gelingt, da der Leser einerseits
bemüht ist, eine passable Haltung für die notwendige Konzentration
hinzukriegen, er aber anderseits mit dem Hintern immer wieder unmerklich
nach vorn rutscht. Hier stört die subtile Nachgiebigkeit des Materials,
so daß ein heiteres Studium beispielsweise von Paul Scorrons komischen
Roman eher verhindert als befördert wird.
Nein, er ist ein verkappter Sessel zur Kommunikation, ein Sessel, der
mitgeht, der die Bewegungen des Sprechenden optimal unterstützt;
denn wie könnte es anders sein, wenn sich vom Hausbesetzer bis zum
Yuppie aus diesen Monoblockstühlen sommers ein ununterbrochener Erzählstrom
ergießt, während sich beispielsweise die ehemaligen Gartenstühle
aus Holz doch mehr für kurze aber folgenreiche Besäufnisse der
Einzelkämpfer eignen.
Der Monoblock ist der Stuhl der oral history, da er als öffentliches
Möbel durch seine formale Struktur gleichzeitig soetwas wie Privatheit
initiiert. Der Sitzer ist in ihm bei sich, zugleich aber auch nach draußen
orientiert. Der Stuhl ist wie ein Nest, das zu einer Seite hin geöffnet
ist, sicherlich um den Beinen Freiheit zu geben, doch auch um der Kommunikation
leichten Zugang zu eröffnen.
Vielleicht liegt es an solchen Modalitäten, daß wir nie die
Formfrage stellen, wenn wir ersteinmal in ihm sitzen. Der Monoblock strahlt,
seitdem er auf diesem Planeten erschienen ist, ein Selbstverständnis
aus, das verblüfft. Er erscheint zeitlos, ohne von der unerträglichen
Leichtigkeit des Designs berührt zu sein. Und es sieht auch nicht
so aus, als ob er je durch einen anderen vergleichbaren Stuhl ersetzt
werden könnte. Sicherlich gibt es minimale Abweichungen in der Gestaltung,
vor allem was den Rücken betrifft. Doch sind diese Abweichungen entweder
so minimal, daß sie nicht weiter auffallen, oder so radikal, daß
sie als modische Perversion nur kurzzeitig eine Überlebenschance
haben. Letztendlich bleibt also Monoblock Monoblock. Und das ist schön
so in dieser schnellebigen Zeit. Er ist das T-Shirt unter den Stühlen.
Ich stelle mir die Maschine vor, die unermüdlich diese Sitzgelegenheit
ausspuckt. Ich stelle mir vor, wie diese gestapelt an die Großmärkte
und Gartencenter in den Flachbauhallen der Peripherien angeliefert werden
und dort weggehen wie warme Semmeln. Der Monoblock scheint ein Ideal zu
sein: demokratisch, leicht, abwaschbar, preiswert und nur durch größere
Gewalteinwirkungen kaputtzukriegen. Er scheint ein geheimes Symbol zu
sein für die Utopien dieser unserer Gesellschaft. Er fördert
keinen Neid und lindert die Eifersucht, weil alle ihn haben. Er setzt
jede Art von Geopolitik außer Kraft, ist grenzüberschreitend,
universell. Europa ist für ihn kein Problem.
Aber es muß ein Europa sein, das sich draußen abspielt, ein
"freies" Europa. Es muß ein Europa des schönen Wetters
sein, ein Europa der Fußgängerzonen, der Freizeit und der bunten
Eisbecher. Der Stuhl kommt also im wesentlichen dann zum Einsatz, wenn
wir die Privatheit unserer Räume verlassen und ungeschützt und
kommunikationswillig die Öffentlichkeit aufsuchen, wenn wir also
die Demokratie des Sommers initiiren und halbnackt ausleben. Er ist dann
so leicht wie die Kleidung, die wir tragen, und von einem plötzlichen
Regenschauer genauso überrascht wie wir. Allein der öffentlichen
Demonstration körperlicher Liebe verweigert er sich ein wenig. Zum
Küssen und Knutschen sind einfache Bänke besser geeignet. Aber
man kann sich in ihm wunderbar anstrahlen und -wie gesagt- erzählen,
erzählen, erzählen.
Doch was ist mit Aurora? Den Monoblock so zu nennen, ist vielleicht etwas
zu euphemistisch. Für diesen Ehrentitel ist er zu bescheiden, zu
billig und zu nackt. Dennoch verführt die merkwürdige Form des
Monoblocks zu der Namensnennung. Die ausgestanzten Flächen am Rücken
lassen sich als Strahlen der aufgehenden Sonne interpretieren. Schön.
Dennoch ist unklar, ob zuerst der Name für den Stuhl da war oder
erst der Stuhl, und irgendeinem Gebildeten in der Plastikfabrik fiel eine
optische Analogie auf. Wie auch immer: durch den Namen wird aus dem bescheidenen
Freizeitmöbel ein komplexes Gebilde.
Und damit sind wir wieder bei den Eingangszitaten aus den Barockromanen.
Aurora ist in dieser Zeit nicht nur als narrative Eingangssequenz präsent,
sondern sie ist das optische Signal für das Zeitalter der großen
und kleinen Sonnenkönige, die sich mit Apoll gleichsetzten. Und in
den Schlössern des Barock finden wir immer wieder den Sonnenwagen
mit der Aureole. Was mit der Sonne als höchstem Symbol seit dem frühen
Christentum ausgedrückt wurde, findet im Absolutismus seine höchste
Erfüllung. Und all die Kunstpilger, die in diesem Jahr zum frisch
restaurierten Deckengemälde Tiepolos nach Würzburg gereist sind,
haben auch etwas gelernt über den Monoblock, auch wenn sie ihn kaum
gesehen haben, da sie auf ihm saßen.
Sicherlich wurde der Prozeß einer Profanisierung der Aureole im
Absolutismus eingeleitet, und Aurora begleitet von nun an die Verbürgerlichung
der Kunst. Sie strahlt über Berge, Landschaften und Meere der Romantik
und bestrahlt damit gleichzeitig den einsamen Wanderer, den bürgerlichen
Held. Und so war es nur ein kleiner Schritt zu Industrialisierung der
Aurora im 19. Jahrhundert. Farbriktore und Arbeiterwohnungen, Villen und
Landsitze, überall Aurora, und zu Beginn unseres Jahrhunderts sollten
Reklame und Markenzeichen ihrer Ikonographie durch Inflation den Rest
geben. Der barocke Hintergedanke hatte sich in ihrem permanenten Strahlen
aufgelöst.
Paradoxerweise wird er durch den tumben Monoblock wieder aufgenommen;
denn bei näherer Besichtigung erweist dieser sich als ausgesprochen
Barock. Unbeeindruckt von Neuer Sachlichkeit und Bauhaus ist für
ihn Ornament kein Verbrechen. Nicht nur durch seine geschwungenen Linien
und Strahlenzeichen lassen sich Verbindungslinien zu einem Stil finden,
der erst langsam wieder rezipiert wird und zu Ehren kommt. Auch der Monoblock
arbeitet auf engstem Raum mit Täuschung und Illusion. Er nimmt Formen
auf, die nicht zum Material passen, er täuscht Schwere vor und setzt
eine kleine Theatermaschinerie in Gang, um uns in die Scheinwelt von Sesseln
und Raumverdichtungen zu entführen. Und letztendlich gibt er auch
dem vielzitierten Licht des Barock nicht nur durch seine ausgestanzten
Leerräume genügend Möglichkeit zur Entfaltung, zum Spiel
von Licht, Schatten und Raumtiefe. Vor allem sind es aber die mal kantigen,
mal gewölbten Faltungen, die den barocken Charakter des Monoblocks
betonen.
Für den kürzlich verstorbenen französischen Philosophen
Gilles Deleuze ist "Die Falte" (so der Titel seines 1988 erschienenen
Buchs) die nicht nur visuelle, sondern auch philosophische (Leibniz) Basis
des Barocks. Er schreibt: "Der Barock erfindet das unendliche Werk
oder die unendliche Operation. Das Problem ist nicht, wie eine Falte beenden,
sondern wie sie fortsetzen, die Zimmerdecke durchqueren lassen, sie ins
Unendliche tragen. Denn die Falte affiziert nicht allein die Materie,
die zu Ausdrucksmaterien werden, gemäß unterschiedlicher Skalen,
Geschwindigkeiten und Vektoren (die Berge und das Wasser, die Papiere,
die Stoffe, die lebendigen Gewebe, das Gehirn), vielmehr bestimmt sie
und läßt erscheinen die Form und macht daraus eine Ausdrucksform,
Gestaltung, das genetische Element oder die unendliche Inflexionslinie,
die Kurve mit einer einzigen Variablen.
[...] Die unendliche Falte trennt oder verläuft zwischen Materie
und Seele, zwischen Fassade und geschlossenem Raum, dem Äußeren
und dem Inneren. Denn die Inflexionslinie ist eine Virtualität, die
sich unaufhörlich differenziert: sie aktualisiert sich in der Seele,
aber sie materialisiert sich in der Materie, beide je nach ihrer Seite.
Das ist das Charakteristikum des Barock: ein Äußeres immer
außen, ein Inneres immer innen. Eine unendliche "Empfänglichkeit",
eine unendliche "Spontanität": außen die Fassade
des Empfangs und innen die Zimmer der Tätigkeit."
Das Gesagte bezieht sich auf Architektur und Malerei. Dennoch scheint
mir die Möglichkeit einer Unendlichkeit der Falte auch im Monoblock
gegeben. Sie ist in ihm absolut präsent und formuliert und darüber
hinaus angelegt in seiner Massenhaftigkeit, in seiner Reihung, in seinem
Wuchern und der Stapelung. Der Monoblock allein ist ein barockes Element,
das sich als "Monade" in einem Bild verdichten kann oder aber
sich durch unsere Mitwirkung als solches erweist. Der Monoblock ist auch
jenes Äußere, das uns empfangen will, das bereit steht für
unsere "Seelen". Er ist die Fassade und wir sind als Sitzende
"die Zimmer der Tätigkeit".
Würden wir dieser Ansicht folgen, wäre der Monoblock mehr noch
als jede andere Bestuhlung ein Signal von reichlicher Komplexität.
Er würde seine maschinelle Unschuld und Naivität verlieren und
wie Franz Kafkas "Odradek" zu weiteren Gedanken und "Sorgen"
Anlaß geben. Er würde quasi als eine einzige, exemplarische,
in sich abgeschlossene Falte jene anderen Falten inaugurieren, die das
neuerliche Nachdenken über den Barock für uns wieder fruchtbar
machen. Als Stichworte seien genannt: Theatralisierung, Illusion, Perzeption,
Festlichkeiten.
Der Witz an dem Monoblock namens Aurora ist aber, daß wir solches
Nachdenken nicht freihaus geliefert bekommen oder durch Aufführungen,
Expositionen, Lektüren mit der Nase darauf gestoßen werden.
Nein, die Form des Monoblocks als barockes Element macht unsere eigene
Aktivität notwendig. Entweder wir sitzen auf ihm und werden sein
bestimmender Teil, dann spielen wir Theater, besetzen mit unseren Sinnen
den öffentlichen Raum der demokratischen Sommerfestivitäten,
oder wir beobachten ihn und machen uns Gedanken darüber, ob unsere
Körper vielleicht doch nicht der öffentliche Versager sind,
als die sie von Richard Sennett und anderen interpretiert werden.
Als Teil des öffentlichen Lebens im Monoblock "Aurora"
sitzend, sind auch folgende Sätze aus dem "Technischen Manifest"
(1951) von Lucio Fontana bedenkenswert: "Den Menschen dieses Jahrhunderts,
die vom Materialismus geprägt sind, bedeutet die Abbildung bekannter
Formen und die Darstellung dauernd wiederholter Erfahrungen nichts mehr.
So kam es auf dem Weg über die Deformation bekannter Formen zur abstrakten
Kunst. Aber auch diese neue Phase entspricht nicht den Bedürfnissen
des modernen Menschen. Notwendig ist deshalb ein Wandel von Inhalt und
Form. Notwendig ist die Überwindung von Malerei, Bildhauerei und
Dichtung. Wir bedürfen heute einer Kunst, die auf den neuen Anschauungen
beruht. Der Barock hat uns diese Richtung gewiesen. Noch ist die Großartigkeit
unübertroffen, mit der seine Darstellungen den Zeitbegriff in die
bildende Kunst einbeziehen. Die Figuren scheinen sich von der Fläche
zu lösen und mit ihren Bewegungen in den Raum auszugreifen. Diese
künstlerische Konzeption war eine Folge der neuen Vorstellungen,
die der Mensch sich jetzt vom Dasein zu machen begann. Zum erstenmal erkennt
die Physik dieser Zeit das Wesen der Dynamik. Man entdeckte die Bewegung
als ein der Materie innewohnendes Prinzip, aufgrund dessen das Universum
erst verständlich wird."
Hier unterbrechen wir die Lektüre, stehen auf, stellen den Monoblock
ordentlich hin und begeben uns direkt in die Ausstellung "Aurora"
von Sibylle Hofter im Münchner Stadtmuseum.
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