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Sibylle Hofter

zu Christian Hasucha, An der Strasse, 2002

Vermessenheit


Ein dreijähriges Mädchen knotet in der Küche ein Maßband aus China von Schublade zu Schranktür, von Kühlschrank zu Tisch und von Hocker zur Tür, dreißig Hundert Meter, sagt sie, acht Vierzig und fünfzig Hundert, die Kombination mit Hundert benutzt sie besonders nachdrücklich. Was sie mit dem rotbedruckten Maßband misst, das auf der schöneren Seite Zoll anzeigt und auf der unübersichtlicheren fiseligen Seite die Zentimeter, erschließt sich nicht. Der Erwachsene hält sich mit Mühe zurück zu erklären, dass Knoten im Maßband das Messergebnis unbrauchbar machen, und dass die Seite mit den kleineren Abständen in Deutschland die gebräuchliche sei. Die Zeit der Zurückhaltung, die der Erwachsene untätig am Küchentisch sitzt, bringt den zwölfjährigen Autisten in Erinnerung. der in Nijmegen akribisch die Küche der Freunde vermaß, bei denen er einmal wöchentlich zu Besuch kam. Die Abstände stimmten, und die Skala stimmte.

Begegnete man Christian Hasucha auf der Straße, hielte man ihn weniger für einen vermessenden Künstler, als für einen literarischen oder realen Landvermesser. (Meines Wissens nach ist nie einer der Vermessungsingenieure, die vorbereitend und verlässlich das Geschehen des Hauptstadtstadtaufbaus begleiten, Gegenstand von Schaustelle-Berlin-Führungen geworden.) Dieser Eindruck mag auch die reibungslose Installation der Arbeit entlang der B246 ermöglicht haben: Ein Transporter, zwei Männer, zwei Reflektorwesten, je eines der 28 sorgfältig vorproduzierten Schilder und ein Erdbohrer bildeten ein Ensemble, das so deutlich für die Legalität seiner Aufgabe stand, dass keiner der passierenden Autofahrer, anhielt, um zu fragen, wer das Tun genehmigt habe, obwohl es kaum denkbar ist, dass sich nicht eine Anzahl von Pächtern bzw. Eigentümern der betreffenden Gemarkungen oder deren Nachbarn unter ihnen befanden. Das ist nicht nur eine vergnügliche Geschichte, die in Preußen wieder hoffen läßt, sondern auch ein Modell dafür, wie Hasuchas Arbeiten in der Welt stehen. Vielleicht muss der Sachverhalt gar nicht mehr auf geknüddelt werden: Die Arbeit erzählt ihre eigene Geschichte: wie sie mit den Mitteln nicht nur des Gewohnten, sondern des mimetisch Eingepassten, Distanz zum gewohnten Blick herstellt und ihn für eine andere Form von Wahrnehmung freimacht. Käme Hasucha mit handschriftlich gepinselten Schildern daher und haute sie mit dem Vorschlaghammer neben das jeweilige Messobjekt, hätte er ebenfalls den Abstand zur Straße angegeben, aber alle Welt hätte gesagt, da ist Kunst, was soll das und wo ist überhaupt die Genehmigung. Ihre Mimikri lässt die Arbeit umso deutlicher erscheinen, mit ihr lässt sie sich nicht so leicht in die Kunstecke (die auch die Ecke der armen Irren ist) abdrängen.

Welchen Abstand geben die Schilder denn nun an? Erfährt der Autofahrer beim Passieren eines zuvor nicht näher definierten Baumes, dass er sich 101 m von ihm entfernt befindet? - aber der Autofahrer, der in die andere Richtung unterwegs ist, erfährt das gleiche und trotzdem ereignete sich bei der Begegnung der beiden kein Unfall. Also kann es nicht die Subjektive des Fahrers sein, die in dem temporär eingesetzten oder implantierten System die Nullkoordinate bildet. Die Mittellinie der Straße ist logischer (und zutreffend) als eine der seitlichen Begrenzungen. Vielleicht ist es schade, dass das implantierte System eines ist, das sich an objektiven Begebenheiten orientiert, statt an der Subjektivität des Fahrers (diese Frage ergab sich aus einer längeren Diskussion in der Vorbereitungsphase des Projekts). Andernfalls hätten die Angaben mit etwas wie +/- 1m verkompliziert oder für jede Fahrtrichtung unterschiedlich sein müssen. Für meinen Geschmack entspricht es aber den brandenburgischen Tatsachen, die Objektivität der Bundesstraße brutal zur Nullkoordinate dieses Systems zu erklären. Ich würde sogar sagen, dass das längst geschehen ist. Die übergeordnete Nullkoordinate ist die Autobahn, eine Alternative wäre die Bahnlinie, die es in der Gegend noch gibt, weil sie gleichzeitig die Verbindung zweier Grosstädte bildet. Die nachgeordneten Nullkoordinaten sind die Bundesstraßen.

Die Lage innerhalb dieser Klassifizierungen bestimmt die Wirtschafts- und Lebensbedingungen der Menschen. Ein sozial-integriertes Leben ohne Auto ist allenfalls in der Nähe dieser Unterrückgrate möglich (Busse). Nähme man eine Karte ohne Gewerbegebiete zur Hand, könnte man mit statistischer Genauigkeit aus der Verkehrsanbindung die Lage der vorhandenen Gewerbegebiete ermitteln.

Dass die Verfügbarkeit eines fahrtüchtigen Autos Voraussetzung für das Leben auf dem Lande geworden ist, ist eine Binsenweisheit, die näher zu untersuchen sich trotzdem lohnt. Obwohl die Menschen sich Enklaven, wie Gärten und teilweise auch eigene Traktoren erhalten haben, die ihnen die Wahrnehmung z.B. von Wetter auch außerhalb des Autos bzw. des Weges zum Auto anbieten, findet diese größtenteils durch die Windschutzscheibe statt: Man verbringt eine Menge Zeit beim werktäglichen Pendeln und hat jeweils morgens und nachmittags das gleiche Stück Himmel vor Augen. Dessen Veränderungen lernt man anders schätzen, da man von seinen Segnungen nicht mehr unmittelbar abhängig ist. An die zu-überbrückende-Zeit der Pendlerwege hat sich längst die Lust auf Spritztouren mit integrierten Besuchen der Gastronomietankstellen angeschlossen.

Susken Rosenthals Idee, Kunst an Durchfahrtsstraßen zu zeigen, trägt dieser Wirklichkeit Rechnung und versetzt die teilnehmenden Künstler in die Lage, sich von den Schemata des Zeigens von Kunst zu befreien und sich von ihrem Publikum zu emanzipieren. Nun braucht keiner dem anderen Interesse zu heucheln, entweder es ist da oder nicht. Die Anwesenheit der Arbeiten ist über einen begrenzten Zeitraum kontinuierlich, aber unaufdringlich, nichts braucht sich im ersten Durchgang erschließen. So sind Hasuchas Meterangaben zunächst eingereiht in den spezialisierten Teil der praktischen Beschilderung der Strasse, deren Bedeutung nur Beteiligten (Strassenmeisterei, Bundeswehr etc) bekannt ist. Damit steht sie jenseits der Alltagswahrnehmung und wird nur gesehen, weil sie als Veränderung auftritt In späteren Wahrnehmungsdurchgängen fragt man sich, worauf sich die Angaben beziehen, ... etc. bis die Arbeit (oder der Plan) komplett im Kopf vorhanden und das letzte Schild weitab im Wald entdeckt ist.

Ich bin ein Landvermesser

Den literarischen (vorgeblichen) Landvermesser hat Kafka mit K. im Schloss 1922 nachdrücklich in die Literatur eingeführt. Allerdings: schon 1879 taucht der Landvermesser Old Shatterhand aus Dresden im Wilden Westen auf. Nur wenige Landvermesser zu kennen (als da wären Jeremiah Dixon bei Pynchon, der (Gross-) Vater bei Danilo Kis, Ich bin ein Landvermesser als Titel gesammelter Gespräche zwischen Alexander Kluge und Heiner Müller), reicht aus, um einen literarischen Topos auszumachen. (-Wie war das in dem Gespräch gestern? Die durch Messung objektivierten Ansichten seien Ausdruck von Macht gegenüber den emotional erfassten Größenordnungen. Die Diskussion uferte dahingehend aus, dass beide Orientierungsformen Potenzial zur Machtausübung böten.)

Halten wir fest: Vermessen ist eine Form ordnender Annäherung an Gegebenheiten auf der Grundlage einer bekanntgegebenen Maßeinheit/Skala, die (bei gleichbleibendem Gegenstand) die Wiederholbarkeit der Messung ermöglicht. Die skalierte Grundlinie bildet die Nullkoordinate eines Bezugssystems. In der Wahl dieser Nullkoordinate liegt die (Freiheit der) Entscheidung. Hat man sie getroffen, ergibt sich der Rest von selbst: Die Welt kann dann nach Herzenslust mit eindeutigen Bezügen versehen werden. Das messende Kind braucht keine Aussage über sein Bezugssystem zu machen, denn es kann nichts tun als die Welt mit sich selbst zu vermessen. Beim Autisten mag die Sache ähnlich, anders liegen. Da scheint sich das kindliche Bedürfnis, die Welt mit sich selbst als Maß zu vermessen, von diesem Selbst getrennt zu haben und nun als absolutes Ordnungsbedürfnis, zwischen der eigenen Person und den Mitmenschen zu stehen (mit der Angst als seinem Widerpart).

www.jova-nova.com: Self-Marketing, siehe "10 Platin-Regeln":

1. Definieren Sie sich stets in drei Worten: Auf die Frage, was Sie sind oder tun, antworten Sie stets: Ich bin Landvermesser. (Ersetzen Sie Landvermesser durch ein einziges auf Sie passendes Hauptwort.) Auch in Zeiten der Arbeitslosigkeit antworten Sie nicht stellensuchend, sondern Landvermesser. Falls Sie nicht genau wissen, was Sie sind, oder falls Sie vieles zugleich tun, sind Sie Landvermesser.